Mineralwasser: Das Heil im Mineralwasser – Placeboeffekt bei Konsumgütern
Placeboeffekt bei Konsumgütern – Das Heil im Mineralwasser
Es kommt nicht darauf an, was drin ist, sondern was draufsteht: Markenimage und Produktdesign von Konsumgütern sorgen bei uns täglich für Placeboeffekte – mit Folgen. Placeboeffekte gehören, so die allgemeine Ansicht, in das Terrain der Medizin.
Doch viel häufiger als bei Medikamenten treten sie heute bei Konsumprodukten auf. Tees, Anti-Aging-Cremes, Mineralwasser oder Duschgels versprechen positive Wirkungen und eine Steigerung des Wohlbefindens. Man soll durch sie erfrischt, entspannt, verjüngt oder cooler werden. Angesichts der Vielzahl solcher Produkte ist sogar zu konstatieren, dass es wohl noch keine Kultur gab, in der die Menschen so intensiv wie heute von und mit Placeboeffekten lebten. Man wagt gar nicht, sich vorzustellen, wie es um das allgemeine Wohlbefinden stünde, fielen die zahlreichen Suggestionen der Warenwelt von einem Tag auf den anderen weg. Mancher fühlt sich ja schon indisponiert, wenn er nur einmal auf ein einziges gewohntes Produkt verzichten muss. Dass die Lieblingscreme ausgegangen ist, wird dann zur Entschuldigung dafür, unkonzentriert zu sein.
Wie aber kommt es zu den Placeboeffekten in der Konsumwelt? Die Autorität, die ein Ding braucht, um zu wirken, wird hier weniger über Personen – also über eine Instanz wie Medizinmänner – und auch kaum über Rituale – ein Besprechen oder Beschwören – erzeugt. Sie ergibt sich in erster Linie aus dem Produktdesign, dessen Wahrnehmung oft noch vom Image der Marke abhängt. Dass ein Produkt möglichst viele Sinne ansprechen muss, damit sich ein Placeboeffekt einstellt, machen vor allem Testberichte von Konsumenten deutlich. Ein mit Sauerstoff angereichertes Mineralwasser finden sie offenbar nur erfrischend, wenn der auf die Flasche gedruckte Text Power verspricht, wenn zugleich die Verschlusskappe so gestaltet ist, dass das Wasser beim Öffnen mit einem leichten Zischen heraussprudelt, und wenn die Flasche außerdem eine schlanke Form hat und auf dem Etikett Farben verwendet werden, die entweder – wie Rot – Energie verheißen oder aber – wie Blau – für Luftigkeit und Frische stehen.
Experten sprechen in einem solchen Fall von „multisensory enhancement“, also von einer Verstärkung einzelner Reize durch Impulse, die an andere Sinne adressiert sind. Angeblich wird ein Ereignis sogar bis zu zehnmal so intensiv erlebt, wenn sich verschiedene Sinneseindrücke gegenseitig bestätigen. Sofern sie einander widersprechen, heben sie sich aber auch auf – und das Produkt löst keine emotionale Wirkung aus: Auf einer bauchigen Flasche, die in Beige oder Grau gehalten ist und aufgeschraubt werden muss, erscheint die Vokabel „Power“ ziemlich unglaubwürdig. Man wird sich nach Gebrauch eines derart gestalteten Produkts kaum mit Energie aufgeladen fühlen.
Unterstützt von Ergebnissen der Gehirnforschung erreicht die Idee des „multisensory enhancement“ inzwischen immer mehr Hersteller. Branding-Gurus wie der Däne Martin Lindstrom machen sich stark dafür und weisen auf die „Macht der vernachlässigten Sinne“ hin. Künftig dürfte es daher mehr Produkte als bisher geben, bei denen gezielt aufeinander abgestimmt ist, wie sie sich anfühlen und riechen und welche Töne sie von sich geben, wenn man sie benützt. Als Vorbild preist Lindstrom die katholische Kirche an, die vom Glockengeläut über den Weihrauch bis hin zu den Farben der Messgewänder alle Sinne anzusprechen und einheitlich zu stimulieren verstehe: ohne „multisensory enhancement“ kein Glaube und, bei Produkten, auch keine Placeboeffekte.
Sollte deren große Zeit also etwa erst beginnen? Einiges spricht dafür. Um nochmals auf das Beispiel mit dem Mineralwasser zurückzukommen: Wer hätte sich vor fünfzehn oder zwanzig Jahren vorstellen können, dass Wasser Energie oder Entspannung, Fitness oder Spiritualität vermitteln soll? Das alles ist mittlerweile selbstverständlich geworden. Ja, statt einfach Durst zu löschen, will nahezu jedes Mineralwasser erheblichen Mehrwert für Leib und Seele besitzen. Eine Vielfalt an Flaschenformen, Materialien, Verschlusstechniken und Vermarktungsstrategien ist die Folge davon. Doch noch gibt es Warentypen, etwa Glühbirnen oder Herrensocken, denen eine entsprechende Aufladung und Ausdifferenzierung erst bevorsteht. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Versprechungen der Hersteller sich künftig häufiger erfüllen als bisher: Dank eines konsequenten „multisensory enhancement“ werden die Konsumenten selbst von einfachsten Produkten Heil erfahren, umgekehrt aber vielleicht schon bald keine Dinge mehr ertragen, die auf therapeutische Dienste verzichten. Der Dauerpegel an Placeboeffekten wird noch höher sein. Spätestens dann dürften aber auch asketische Gegenbewegungen entstehen, die placebofreie Produkte fordern und es als cool, als Zeichen von Stärke, gar als neuen Heroismus ansehen, möglichst ohne Placeboeffekte auszukommen. In der Zukunft werden sich die Geister nicht zuletzt daran scheiden, wie sie zu Placeboeffekten stehen.
Autor: Wolfgang Ullrich
Quelle: taz – mit freundlicher Genehmigung der taz – die tageszeitung