Blaubuch – Ein blaues Wunder?
Rechnet man die umgebenden Meere hinzu, ist Europa zum größten Teil von Wasser bedeckt und bis zu 4000 Meter tief.
Wir leben auf einem blauen Kontinent. Für das politische Europa gilt das spätestens seit dem Jahr 1986. Seitdem gehören die wichtigsten Meeresanrainer Europas der EU an. Nimmt es da nicht Wunder, dass die Europäische Kommission erst am 10. Oktober 2007 ihr »Blaubuch« mit Visionen und Aktionsplänen für eine europäische Meerespolitik vorgelegt hat? Nein. Denn es liegt auf der Hand, dass Meerespolitik und Meeresschutz nur im internationalen Rahmen denkbar sind. Seit mehr als drei Jahrzehnten wurden weltweite und regionale völkerrechtliche Vereinbarungen geschlossen. Unter anderem für Ostsee, Nordsee, Atlantik und Mittelmeer. Kaum ein Thema wurde ausgespart, von der Schifffahrt über die Fischerei bis zur Meeresverschmutzung aus dem Hinterland. Fast allen dieser Abkommen gehört auch die EU an.
In den Brüsseler Amtsstuben ist die Zuständigkeit für unsere Meere und Küsten ebenso zersplittert wie in Berlin und anderswo: Will ein Mitgliedsstaat ein Korallenriff vor seiner Haustür vor der Zerstörung durch Bodenschleppnetze schützen – wozu er nach EU-Recht verpflichtet ist – bedarf es eines Antrags bei der Kommission und zeitraubender Abstimmung mit den Partnern. Deren Fangflotten dürfen während dieser komplizierten Prozedur ihre Schleppnetze weiter im Meeresschutzgebiet auswerfen.
Wird ein Tanker auf der Nordsee von den Behörden eines EU-Staates als Ölsünder ertappt, so ist seine Strafverfolgung in den Gewässern des Nachbarn keineswegs selbstverständlich. Weil es keine europäische Hafenpolitik gibt, stehen die Seehäfen in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf um zukünftige Schiffskapazitäten. Schädliche Flussvertiefungen und der Verlust wertvoller Feuchtgebiete sind die Folge. Wo das gemeinsame Wirtschaften auf dem Meer schon lange zum Alltag gehört, hat sich die EU bisher nicht mit Ruhm bekleckert: Trotz ökologischer Reform der Fischereipolitik sind 80 Prozent der kommerziellen Fischbestände überfischt oder im kritischen Zustand. Quoten werden überschritten, der Raubbau durch Beifang schreitet voran.
So drängt sich die Frage auf, ob wir mit dem »Blaubuch« nur ein weiteres blaues Wunder erleben. Es verspricht eine Meeresraumplanung, bei der alle Nutzungen des Meeres berücksichtigt werden. Auch die Maßnahmen zu Hafenpolitik, Klimawandel, Luftverschmutzung durch Schiffe, Überwachung und Schutz auf hoher See entsprechen der aktuellen politischen Tagesordnung. Doch das Bekenntnis zur »Maximierung nachhaltiger Nutzung« macht angesichts der Überlastung unserer Meere stutzig. Während die Ostsee unter der Nährstoffflut von Äckern und Feldern dem Erstickungstod ins Auge sieht – mit enormen Konsequenzen für Fischfang und Tourismus – bleibt die Agrarpolitik ausgeklammert.
Die ökologischen Leitplanken für die EU-Meerespolitik werden ohnehin auf einer anderen Baustelle gezimmert: Eine neue Rahmenrichtlinie soll den »guten Zustand der Meeresumwelt« festlegen, den es bis 2017 zu erreichen gilt. Allerdings: Die Vorgaben für die Öl-, Gas- und Schiffsindustrie sind auf Druck der Lobbyisten aus dem Entwurf gestrichen worden. Übrigens auch am 10. Oktober 2007.
Autor: Stephan Lutter – WWF